Archiv des Tags ‘Bern’

15. September 2010

Begegnungszone: wo man beim Kaffee Autos begegnet

Seit letztem Jahr dürfen wir einander in der Mittelstrasse (Bern) begegnen, dürfen auf der Strasse flanieren und die Autos müssen abbremsen, können in Strassencafés Kaffee trinken ohne Kühlerhaube vor der Nase… Doch halt, irgendetwas ist schief gelaufen: es sind zwar Parkplätze aufgehoben worden, doch seltsamerweise nicht vor den Cafés, sondern vor der Migros. Tja, doch, es lässt sich ja auch vor der Migros die Sonne geniessen und erfrischende Getränke gibt’s beim Grossverteiler zuhauf. Im vorderen Teil der Mittelstrasse darf scheinbar weiterhin fröhlich parkiert werden, und zwar nicht nur auf den offiziellen Parkfeldern, sondern wo’s der motorisiserten Bevölkerung beliebt. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir die Gipfeli von der Bäckerei Glatz nicht mehr mit dem Auto holen könnten?
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So sitzen nun vor der besagten Bäckerei die Kaffee Trinkenden auf dem schmalen Streifen zwischen Kühlerhauben und Geschäft, und die Flanierenden drängen sich so schnell wie möglich an den Autos vorbei. Kaffee trinke ich dort schon lange nicht mehr, eigentlich sollte ich die Bäckerei auch für Gipfeli u.ä. boykottieren, so lange sie das Parkverbot bei ihrer Kundschaft nicht durchsetzt. Bis jetzt hat’s leider sonntags für Gipfeli keine Ausweichmöglichkeiten in der Mittelstrasse. Für den Kaffee dagegen hat’s sehr empfehlenswerte Alternativen: Vor dem Tingel Kringel begegnet man ausser der Sonne nur parkierten Velos (auch die Kuchen und Torten sind absolut empfehlenswert!), und vor der Gelateria di Berna begegnen sich die Leute wirklich, sei’s beim Anstehen für die köstlichen Gelati, sei’s an einem der gemütlichen Tische des dazugehörigen Cafés. So stelle ich mir eine Begegnungszone vor, und ich hoffe, dass es den Flanierenden bald gelingt, die ganze Strasse zu erobern und die Blechkarossen zurückzudrängen.
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6. Juni 2010

Moderne Hexenjagd

Die Schweiz hat ein neues Feindbild, die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Bern. Hintergrund ist der von ihr herausgegebene Leitfaden für geschlechtergerechte Sprache, ein Teil des städtischen Aktionsplans für Gleichstellung. Was eine solche Massnahme für Kommentare auf den Online-Foren auslösen kann, ist klar, schliesslich sind diese nicht bekannt als Intelligenzkonzentrat: “Muss ich jetzt Salzstreuerin sagen und das noch mit meinen Steuern bezahlen?” Wirklich erschreckend ist, dass der nationale Aufschrei von den Medien nach Kräften angeheizt wird, vermutlich um möglichst viele Klicks auf der Online-Ausgabe zu generieren. Um objektive Berichterstattung geht es dabei sicher nicht mehr, es fehlen nur schon jegliche Links zum Berner Sprachleitfaden, die Artikel könnten ja sonst als masslose Übertreibung entlarvt werden… Der Blick schreckt auch vor diffamierenden Lügen nicht zurück: das schon im Titel erscheinende “Elter”, das von der Stadt Bern an Stelle von Mutter oder Vater vorgeschrieben werde, findet sich im Berner Leitfaden gar nicht. Im sehr viel ausführlicheren Leitfaden des Bundes findet sich das Wort (das effektiv auch im Duden zu finden ist), allerdings nur als Beispiel für geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen (ohne Vorschriftscharakter) mit dem Vermerk “sehr selten”. Auch der Tagesanzeiger-Autor Daniel Foppa stellt sich absichtlich dumm, um möglichst empörte Kommentare zu provozieren: In seinem Artikel, der mitnichten als persönliche Meinung gekennzeichnet ist, bittet er die Leserinnen und Leser, “diese Spracherziehung à la Nordkorea”, “diesen höheren Blödsinn” mit lächerlichen Neuerfindungen ad absurdum zu führen, und führt gleich selber “Kindlifresserin-Brunnen” und “Bärinnengraben” als Beispiele an. Dass dem Lesepublikum nicht bewusst ist, dass es beim Berner Sprachleitfaden nicht um “Computerinnen und Computer”, “Personeriche” oder ähnliches geht, erstaunt nicht weiter, wenn aber Daniel Foppa es nicht besser wüsste, wäre er als Journalist eine Zumutung. Ansonsten täte er besser daran, die Hintergründe für solche Sprachregelungen zu beleuchten: Grammatikalisches und biologisches Geschlecht bei Personenbezeichnungen, für die ein Maskulinum und ein Femininum existieren, müssen übereinstimmen. “Der Bär” ist keine Personenbezeichnung, und der “Kindlifresser” auf dem Brunnen ist als Person effektiv männlich, mit seinen Beispielen macht sich Foppa also selbst lächerlich und nicht die Fachstelle. Es ist zu hoffen, dass dies der Tages-Anzeiger oder doch zumindest einige Leserinnen und Leser realisieren und daraus Konsequenzen ziehen. Als Wunsch bleibt mir, dass in dieser Diskussion auch noch Personen zu Wort kommen, die besser wissen, worum es geht, als der Durchschnittschweizer (90% der Kommentare sind von Männern geschrieben…) und so das von den Medien erschaffene Zerrbild noch ein wenig korrigieren können.

17. November 2008

Korrigierende Diskriminierung

Juhui, ich habe schon abgestimmt und gewählt (Schulterklopf und so ;->) ! Habe den vernebelten Sonntag genutzt, mich mit Propagandamaterial für die Stadtberner Wahlen umgeben und Köpfe studiert. Auf der Riesenliste für den Stadtrat (80 Plätze) stehen bei mir nur Frauennamen. Nicht etwa, weil ich das Gefühl hätte, dass keine fähigen Männer zur Wahl stünden. Überhaupt nicht, aber ich denke, dass diese fähigen Männer sowieso die besseren Wahlchancen haben als die fähigen Frauen. Und dies auch nicht etwa, weil erstere sich besser verkaufen würden als zweitere, sondern ganz einfach, weil in unserer Gesellschaft eine Frau erwiesenermassen mehr leisten muss um als gleich gut eingeschätzt zu werden wie ein Mann. Da nun Quoten trotz dieser bekannten Tatsache ein Tabuthema sind in der hiesigen Politik, versuche ich das Risiko einer Fehleinschätzung meinerseits (ich bin schliesslich auch von dieser Gesellschaft geprägt, dies ist nicht wegzureden) auszuschliessen und wähle nur Frauen. Eine Überkorrektur ist dabei freilich nicht zu befürchten, da ich wohl eine der wenigen bin, auf deren Wahllisten nur oder doch wenigstens hauptsächlich Frauen stehen. NachahmerInnen sind also nötig und willkommen!

Allerdings hört bei mir die Frauensolidarität (die mir ein junger bürgerlicher Politiker mit Rosenstrauss in einem Inserat für Barbara Hayoz  nahelegt) auf, wo die Ideale den meinen diametral entgegen stehen: Barbara Hayoz ist für mich als Stadtpräsidentin nicht wählbar, und auch für den Gemeinderat habe ich die (immerhin paritätisch zusammengesetzte) rotgrüne Liste eingeworfen.

Und nun bin ich gespannt auf die Resultate…

23. September 2008

Vegetarische Leiden ennet dem Röstigraben

Seit ich in Fribourg arbeite, fallen mir vor allem zwei Dinge auf, die die Stadt von Bern unterscheiden, obwohl nur gut 20 Zugminuten dazwischen liegen: Die Auto Fahrenden haben meistens nicht die Absicht, vor Zebrastreifen zu halten (frau kann dies allerdings durch böse Blicke erzwingen), und als Vegetarierin gehöre ich hier eindeutig zum Bereich des Exotischen. Vegetarische Angebote, vor allem bei den günstigen Tagesmenüs, sind rar. Die Lösung, à la carte zu bestellen, ist in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend: sie ist wesentlich teurer als das Tagemenü (was bei einer Vollzeitarbeit mit entsprechender Auswärtsverpflegung das Portemonnaie ziemlich belastet), das Angebot ist ähnlich eingeschränkt wie bei diesem, und Proteine finden sich höchstens in Form von Reibkäse auf den Teigwaren (Adieu, geliebte Muskeln!). Bei Migros und Coop beschränkt sich das Vegi-Angebot auf das Beilagen- und Salatbuffet, für vegetarische Alternativen sei die Nachfrage nicht vorhanden. Interessanterweise ist das Vegimenü im Restaurant des Staatspersonals, einem der wenigen Orte, wo so etwas vorgesehen ist, meistens als erstes ausverkauft (Es nähme mich schon Wunder, über welche Wege die fehlende Nachfrage dorthin kanalisiert wird!) und so haben wir schon oft vergeblich einen Drittel unserer Mittagspause für den langen Weg zu erhofften vegetarischen Genüssen geopfert. Die Rettung liegt in der Nähe: Nun da das Take-Away Bio-Tip semesterbedingt aus dem Sommerschlaf erwacht ist, werde ich, sofern es die Temperaturen zulassen, mittags wieder dorthin pilgern und zwischen Strasse und Garage die absolut köstlichsten Falafel der Schweiz geniessen - Gemüse, Salat und Eiweiss inbegriffen, und dies alles unschlagbar günstig!

23. Februar 2008

Von der heiligen, Eier legenden Wollmilchsau Fussball

Die nicht eben elegante Euro-Uhr auf dem Kornhausplatz in Bern zeigt es unübersehbar: Die Euro 08 rückt immer näher. Ein grosses Fest soll es werden, die Stadt überflutet mit Fussballfans, die über den neuen Bahnhofplatz richtung Altstadt strömen. Alle wollen sich ein Stück vom Kuchen abschneiden: BeizerInnen und Tourismusverantwortliche hoffen auf Rekordumsätze, in der Migros erfreuen neben anderen Extras sogar M’08-Äpfel mit weissem Schweizer Kreuz die Augen, obschon die UEFA von der Emsigkeit, mit der sich der orange Riese um die Fussballfans bemüht, nicht eben angetan ist.

Nicht eben angetan bin auch ich vom Rummel um den Ball. Nur zu gut habe ich die WM-Fans von 2006 in Erinnerung, die ihrer Freude nicht unmotorisiert mit einem Fest Ausdruck verliehen, sondern mit dem Auto die Strassen verstopften und mich mit Hupkonzerten in der Nacht aus dem Schlaf rissen - ich muss mich wohl glücklich schätzen, dass sie mich nicht gleich mit ihren schwenkenden Fahnen vom Velo gerissen haben… Angesichts der Tatsache, dass die EM im Gegensatz zur WM hier in meiner Stadt stattfinden soll, plagen mich deshalb langsam aber sicher unheilvolle Fantasien: in der Stadt kein Durchkommen mehr vor lauter Public Viewing, die Kinos geschlossen, das Aareufer übersäht von leeren Bierflaschen und ausnüchternden Fussballfans, die gemütlichen Gartenbeizen mit Fernsehern und Leinwänden jeglicher Grösse dekoriert.

Benedikt Weibel, der Euro-08-Delegierte des Bundesrats, rät im Bund-Samstaginterview von heute den Fussballmuffeln - seiner Ansicht nach handelt es sich um wenige Prozente der Bevölkerung - einen grossen Bogen um die Euro zu machen. Nicht ganz einfach, wenn frau mitten in der Stadt wohnt… Trotzdem will ich seinen Ratschlag befolgen, kratze mein Jahresferienpensum zusammen und werde mich im Juni von dannen machen.

Übrigens: nicht nur an der Ferienmesse im Januar habe ich etliche Leute mit ganz ähnlichen Plänen getroffen. Ob es etwa doch nicht so wenige sind, die vom “Volksfest” in die Flucht gejagt werden? Und zugegeben: Ein kleines bisschen Schadenfreude verspüre ich schon darüber, dass sich noch nicht einmal genügend freiwillige HelferInnen gefunden haben (Bund vom 17.2.08)…

9. Februar 2008

Itze längts!

Itze längts“, so der Name der Petition eines bürgerlichen Komitees in Bern: 22′800 Unterschriften für mehr Sicherheit und gegen Demonstrationen, Bettelei, Dreck und die offene Drogenszene. Im Visier hat das Komitee Drogenabhängige, randalierende Jugendliche und AusländerInnen und mögliche Kombinationen dieser Gruppen.

Dem kann ich nur entgegenhalten: Mir längts itze de ou. Mir reicht die Bettelei von Cablecom-Angestellten im Anzug, lieber gebe ich einem weniger schick angezogenen Bettler einen Fünfliber, als dass ich mir nur eine halbe Minute Cablecomgesülz anhören muss. Während Demonstrationen muss man sich bekanntlich mehr vor der Polizei als vor den Teilnehmenden fürchten. Der schädlichste Schmutz, sowohl für unsere Gesundheit als auch für die Umwelt, wird durch den motorisierten Privatverkehr verursacht.

Und zur Sicherheit: Ich habe wesentlich weniger Angst davor, nachts alleine zu Fuss die Stadt zu durchqueren als in der Stosszeit mit dem Velo. Während ich mich von den oben erwähnten Gruppen fast nie bedroht fühle, sehe ich mich fast täglich konfrontiert mit rücksichtslosen AutofahrerInnen, die die grundlegendsten Vortritts- und sonstigen Verkehrsregeln vergessen, wenn das Gegenüber auf dem Velo sitzt. In vielen Situationen kommt mir der Angstschweiss, und ich werde mir meiner Verletzlichkeit gegenüber dieser blechbewaffneten Mehrheit bewusst.

Ich kenne zwar die Statistiken nicht, aber ich bin ziemlich sicher, dass auch sie mir Recht geben würden in der Annahme, dass der Strassenverkehr wesentlich mehr Opfer fordert als drogenabhängige jugendliche ausländische Randalierer. Diese Gefahr wird zur Kenntnis genommen und akzeptiert und hat nicht den leisesten Aufschrei zur Folge. Ich nehme also an, dass nicht tatsächliche Verhältnisse zu oben stehenden Forderungen führen, sondern allein politische und wirtschaftliche Interessen: Der grosse Teil der wählenden und einkaufenden Bevölkerung ist nicht drogenabhängig, nimmt für sich aber die grenzenlose Mobilität mit dem Auto als persönliches unantastbares Recht in Anspruch.

Wie lange wollen wir uns diese von Eigeninteressen verdrehte Optik noch aufdrängen lassen? Wann wird es endlich nicht mehr als persönliche Freiheit jedes Einzelnen betrachtet, andere zu gefährden?